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ÖRAK-Wahrnehmungsbericht 2010: Justizpolitik im Fokus anwaltlicher Kritik

Utl.: Beobachtungen der Rechtsanwälte zeichnen Bild einer systematisch überforderten Justiz

Der Österreichische Rechtsanwaltskammertag (ÖRAK) präsentiert in diesem Jahr bereits zum 37. Mal in Folge seinen Wahrnehmungsbericht, in dem Mängel und Fehlentwicklungen in Rechtspflege und Verwaltung aufgezeigt werden. Alle Wahrnehmungen dieses Berichtes beruhen auf Beobachtungen und Berichten einzelner Rechtsanwälte. Ziel dieses schon traditionellen Berichtes ist es, Strukturen wie auch Ausformungen des Rechtsstaates zu beobachten, zu beurteilen und, wenn nötig, deren Verbesserung einzufordern.

Im Gegensatz zu den letzten Jahren gehen die Wahrnehmungen des diesjährigen Berichtes über die Fehlleistungen Einzelner hinaus. Die Beobachtungen ergeben ein Bild von systematischer Überforderung in vielen Bereichen der Justiz. Dieser Umstand manifestiert sich in zahlreichen Fällen unnotwendig langer Verfahrensdauer (siehe WNB S. 19), Ausfällen Einzelner die in manchen Bereichen zu einem regelrechten Stillstand der Rechtspflege führen (S. 45/46), unzumutbaren Wartezeiten durch häufige Richterwechsel und monatelange Nichtnachbesetzung dringend erforderlicher Richterstellen (S. 36-38), unbesetzten und damit faktisch aufgelösten Gerichtsabteilungen (S. 38), Gesprächsverweigerung durch Staatsanwälte (S. 34) und Gerichten, die trotz ausgeschriebener Verhandlungstermine versperrt sind und damit im wahren Wortsinne den Zugang des Bürgers zu seinem Recht verriegeln (S. 38/39).

„Aus diesem Grund ist es unsere Verpflichtung, auf die mangelnde Aussteuerung dieser Probleme durch die Politik hinzuweisen“, so ÖRAK-Präsident Dr. Gerhard Benn-Ibler. Der im aktuellen Budgetbegleitgesetz eingeschlagene Weg der Justiz, das Missverhältnis von Arbeit und Kapazität durch ein Einschränken der Arbeit und damit des Leistungsangebotes für den Bürger zu beheben, ist dem Rechtsstaat und seinen Bürgern nicht zumutbar. In allen europäischen Ländern ist es selbstverständlich, dass der Staat der Justiz ausreichend Mittel zur Verfügung stellt, nur in Österreich verhält es sich genau umgekehrt. Die österreichische Justiz hebt laut einer aktuellen Studie des Europarates bereits deutlich über 100 Prozent (111%) ihres Finanzbedarfs selbst über Gebühren ein. Der europäische Durchschnitt dieser Gebühren/Kosten-Relation liegt jedoch bei 26 Prozent, der Median bei 20 Prozent. „Österreich benutzt die Justiz zum Befüllen leerer Staatskassen – ein europäisches Unikat“, macht Benn-Ibler deutlich.

ÖRAK-Präsident Benn-Ibler verweist in seinen Schlussbemerkungen des aktuellen Wahrnehmungsberichtes (S. 58ff) explizit darauf, dass diese staatliche Einnahmenbeschaffung über die Justiz durch das vorliegende Budgetbegleitgesetz weiter ausgebaut wird, und in Kombination mit einer Reihe von leistungsreduzierenden und nur angeblich effizienzsteigernden Maßnahmen mittlerweile eine Gefahr für den Rechtsstaat zu werden droht.

Zwtl.: Schlussbemerkungen des ÖRAK-Präsidenten zur aktuellen Situation in der Justiz im Wortlaut

„Österreich ist ein Rechtsstaat. Das Niveau der Rechtsstaatlichkeit ist hoch. Dennoch ist in letzter Zeit zu beobachten, dass diese Rechtstaatlichkeit hinter anderen Notwendigkeiten, mit denen sich der Staat konfrontiert sieht, zurückstehen muss. Das macht Österreich nun durchaus nicht zu einem Staat in dem die Rechtsstaatlichkeit keinen Stellenwert mehr hat, aber die Qualität des Rechtsstaates leidet.

Es werden zunehmend rechtsstaatliche Einrichtungen und Elemente zurückgedrängt oder eingeschränkt, so dass eine schrittweise Rückentwicklung zu beobachten ist. Eine solche Entwicklung ist aufzuzeigen, öffentlich zu machen und es haben gerade die Rechtsanwälte, als die unabhängigen und nur ihren Klienten verpflichteten Wahrer des Rechtes des Bürgers die Pflicht, ihre warnende Stimme zu erheben. Eine solche Stimme wird nicht gerne gehört. Vordergründig haben alle solche Maßnahmen auch einen politischen Hintergrund. Aber: Rechtsstaatlichkeit ist der Fels auf dem der Staat steht. Wer ihn beschädigt, gefährdet gerade das Bauwerk, das er zu retten vorgibt.

Um nur einige Beispiele aus der letzten Vergangenheit zu nennen: Das Gesetzgebungsverfahren wird immer mehr zur leeren Form. Begutachtungsverfahren sind, wenn sie überhaupt stattfinden, regelmäßig zu kurz, um die Gesetzesvorschläge einer umfassenden und verantwortungsgemäßen Begutachtung zu unterziehen. Zu den Budgetbegleitgesetzen 2010 standen knappe drei Wochen zur Verfügung, obwohl nicht nur Steuergesetze, sondern auch eine Vielzahl anderer Gesetze, von denen man sich Budgetwirksamkeit verspricht, zur Änderung vorgeschlagen wurden.

In einer solch kurzen Frist kann eine verantwortungsvolle, öffentliche Diskussion nicht geführt werden. Dass eine solche Diskussion dann mit plakativen und gegebenenfalls emotionalen Argumenten geführt wird, ist daher verständlich. Dass sich so mancher, auch Politiker, persönlich angegriffen fühlt, ist die geradezu notwendige Folge. Dabei geht es nicht um den Angriff, sondern das Argument, aber das Argument wird nicht gehört, wenn es nicht auch in klarer und öffentlichkeitswirksamer Form gebracht wird. Das demjenigen vorzuwerfen, der mit gutem Grund Kritik an den Vorschlägen übt, greift zu kurz. Stünde die notwendige Zeit zur Verfügung, würde das auch zur Versachlichung der Diskussion führen. Gerade unsere Rechtsstaatlichkeit erfordert Partizipation und Diskussion, beides ist in völlig unzureichendem Maße erfolgt.

Gleichsam in einem Schwung eine Vielzahl von Gesetzesmaterien in einem einzigen großen Änderungslauf zu erledigen, ist der Rechtsstaatlichkeit ebenfalls abträglich. Jede Gesetzesänderung ist es wert, eingehend betrachtet, besonders diskutiert und beurteilt zu werden. Diese Zeit steht tatsächlich nicht mehr zur Verfügung. Es entsteht daher der Anschein, dass manche gewünschte Änderung, die wenig bis gar nichts mit dem angestrebten gesetzgeberischen Ziel zu tun hat (hier der Budgetkonsolidierung), nur deshalb hier aufscheint, weil man den Anlass wahrnimmt, um eine unliebsam gewordene oder nicht mehr als passend empfundene Regelung zu beseitigen, ohne dass die Öffentlichkeit die Tragweite wahrnimmt und darüber diskutieren kann.

Dabei wäre alles ganz einfach gewesen. Man hätte für die Budgeterstellung nur die von der Verfassung geforderte Frist einhalten und schon in deren Vorfeld die Diskussion zu den vorgesehenen Änderungen zulassen müssen, die ja vielfach schon längst in den Schubladen der einschlägigen Bundesministerien lagen.

Dass die Bundesverfassung für Manches keine Sanktionen vorsieht, heißt nicht, dass zwischen wichtigem und weniger wichtigem Verfassungsrecht zu unterscheiden ist. Der Verfassungsgesetzgeber konnte selbstverständlich davon ausgehen, dass Verwaltung und Gesetzgebung sich selbst ohne wenn und aber an die Verfassung halten. Auch hier zeigt sich nicht nur ein Weniger im Umgang mit dem Gesetz, sondern ein Weniger an Rechtsstaatlichkeit. Für den Staatsbürger geht ferner die Vorbildwirkung zurück, er wird wenig bereit sein sich selbst gesetzestreu zu verhalten, wenn politische Entscheidungsträger dies nicht tun.
So konnte es daher geschehen, dass ohne viel Federlesens
• Fristen verkürzt werden sollten und erst nach manifesten Protesten der Betroffenen nun doch beibehalten werden.
• der Zugang des Bürgers zum Gericht aus personellen Gründen eingeschränkt werden sollte, was nach eben solchen Protesten zumindest teilweise zurückgenommen werden musste.
• die verhandlungsfreie Zeit nicht mehr als solche bezeichnet wird, um den (unrichtigen) Eindruck zu erwecken, der Gerichtsbetrieb ginge auch im Sommer und zu Weihnachten unvermindert weiter, was ein Irrtum ist, weil die am Gerichtsbetrieb Beteiligten, also nicht nur Richter und Sachverständige, sondern auch Parteien und Zeugen und sogar Rechtsanwälte auf Urlaub gehen.
• Haftungsentschädigungen auf völlig unsignifikante Beträge reduziert werden und damit eine verfassungsrechtliche Schieflage erzeugt wird.
• durch Veränderungen bei der Strafbarkeit der leichten fahrlässigen Körperverletzung, dem Bürger ziviles Prozessrisiko und Prozesskosten aufgebürdet werden, die jedenfalls höher sein werden, als die Einsparungen im Strafverfahren. • die Erhöhung der Gerichtsgebühren, die ausschließlich den Gerichten zustehen sollten, dazu führt, dass die Justiz in den allgemeinen Budgettopf einzahlt und wir die einzige Justiz Europas haben, mit deren Gebührenaufkommen das Budget mit 110% gedeckt ist.
• die Qualität von Übersetzungsleistungen reduziert wird, obwohl die EU-Richtlinie über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen im Strafverfahren genau das Gegenteil, nämlich einen Ausbau des Rechts auf Übersetzung vorsieht.
• die Wirtschaft durch die steuerlichen Änderungen bei der formwechselenden Umwandlung in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird. Die Steigerung der Steuereinnahmen, die damit verbunden sein wird, wird bei weitem nicht so groß sein, wie der Nachteil der Wirtschaft, die durch diese Maßnahmen in ihrer Wettbewerbsfähigkeit eingeschränkt wird. Die Berechenbarkeit und Kalkulierbarkeit geht verloren.
• die Kürzung des Justizbudgets um 1,4% erhöht den Beitrag der Justiz in das Budget noch, obwohl gleichzeitig der Personalbedarf der Justiz nicht gedeckt werden kann, Verfahren wie etwa Hypo Alpe Adria und Amis und die Vielzahl von Anlegerverfahren dies aber erforderten.

All dies sind Maßnahmen, die die Rechtsstaatlichkeit Österreichs nicht beseitigen, aber spürbar berühren. Für schlechte Gesetze bekommt letztlich der Staatsbürger die Rechnung, weil die Beseitigung der nachteiligen Folgen teurer wird als der vordergründig kurzfristig erzielte Vorteil.

Wenn sich der Bürger demnächst überlegt, ob er eine Forderung überhaupt noch gerichtlich geltend machen soll, weil damit zu hohe Kosten verbunden sind, tritt zwar eine Entlastung der Gerichte ein, aber die Rechtsstaatlichkeit ist mehr betroffen.
Wenn der Staat die Freiheit einer Person zu Unrecht entzogen hat und keinen adäquaten Ausgleich dafür zulässt, betrifft dies die Rechtsstaatlichkeit ebenfalls.
Und ebenso geht es dem Staatsbürger, der in seinen wirtschaftlichen Entscheidungsmöglichkeiten durch steuerliche Maßnahmen beschränkt wird.
Es gilt: Wehret den Anfängen, denn auch der Rechtsstaat braucht Hygiene, geht sie verloren, beginnt er zu kränkeln. Es ist Gefahr in Verzug.“

Der Wahrnehmungsbericht 2009/10 der österreichischen Rechtsanwälte steht ab sofort unter www.rechtsanwaelte.at (Menüpunkt Stellungnahmen/Wahrnehmungsbericht) zum Download zur Verfügung.

In Österreich gibt es 5600 Rechtsanwälte und 1800 Rechtsanwaltsanwärter. Rechtsanwälte sind bestausgebildete und unabhängige Rechtsvertreter und -berater, die nur ihren Klienten verpflichtet und verantwortlich sind. Primäre Aufgabe ist der Schutz, die Verteidigung und die Durchsetzung der Rechte Einzelner. Dritten gegenüber sind Rechtsanwälte zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet, womit auch eine völlige Unabhängigkeit vom Staat gewährleistet wird. Vertreten werden die Rechtsanwälte durch die Rechtsanwaltskammern in den Bundesländern sowie durch den Österreichischen Rechtsanwaltskammertag, ÖRAK, mit Sitz in Wien.

Rückfragehinweis: Österreichischer Rechtsanwaltskammertag,
Bernhard Hruschka Bakk., Tel.: 01/535 12 75-15
hruschka@oerak.at, www.rechtsanwaelte.at

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