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Europa im Überwachungswahn: Rechtsanwälte warnen vor gefährlicher Entwicklung

 Utl.: 200 Anwalts- und Justizvertreter aus über 30 Staaten diskutieren in Wien zum Thema „Vom Rechts- zum Überwachungsstaat?“

Bereits zum 38. Mal treffen über 200 Spitzenvertreter der Anwaltsorganisationen und Justiz aus 30 Ländern zur schon traditionellen, vom Österreichischen Rechtsanwaltskammertag (ÖRAK) veranstalteten, „Europäischen Präsidentenkonferenz“ in Wien zusammen. Mit dem Tagungsthema „Vom Rechts- zum Überwachungsstaat?“ steht in diesem Jahr eine Entwicklung im Mittelpunkt, deren Geschwindigkeit und Brisanz täglich zunimmt, und der sich niemand mehr entziehen kann. „Wir alle sind Zeugen einer Tendenz, wie unter dem Deckmantel der Terror-Abwehr nach und nach fundamentale Bürgerrechte ramponiert werden“, erklärt ÖRAK-Präsident Dr. Gerhard Benn-Ibler. „Den Bürgern muss klar sein, dass jeder unmittelbar davon betroffen ist. Egal, ob er etwas zu verbergen hat, oder nicht“, beschreibt Benn-Ibler die Problematik. Morten Kjaerum, Direktor der EU-Grundrechteagentur, Prof. Dr. Hannes Tretter, Leiter des Ludwig Boltzmann Institutes für Menschenrechte und Mag. Georg Bürstmayr, Rechtsanwalt in Wien, beleuchten in Impulsreferaten das Tagungsmotto aus unterschiedlichen Perspektiven.

Zwtl.: Per Knopfdruck zum „Gläsernen Menschen“

Videoüberwachung, Speicherung von Telekommunikationsdaten auf Vorrat, Nacktscanner, das alles flächendeckend und ohne konkreten Tatverdacht – der Phantasie der Behörden sind im vermeintlichen Kampf gegen den Terror offenbar keine Grenzen mehr gesetzt. „Unbeantwortet bleibt stets, ob und was diese Maßnahmen überhaupt jemals zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus beitragen können. Übrig bleibt das Bild eines gläsernen Menschen: jeder Normalbürger kann plötzlich durch einfache Vernetzung der gesammelten Daten auf Knopfdruck nackt ausgezogen werden“, warnt ÖRAK-Präsident Benn-Ibler.

Der technische Fortschritt gibt das Tempo dieser Entwicklung vor. „Noch schneller als der technische Fortschritt scheint derzeit nur eines zu sein: Die Abfolge an Vorschlägen europäischer Staaten, wie Grundrechte, die über Jahrzehnte selbstverständlich und unantastbar schienen, ausgehöhlt werden könnten“, beschreibt Rechtsanwalt Mag. Georg Bürstmayr in seinem Impulsreferat eine bedenkliche Entwicklung. Ständig werden neue Anlassfälle gefunden, um die Überwachungsschraube immer weiter anzuziehen. „Wovon Stasi, Securitate oder andere Spitzeldienste vor Jahrzehnten bestenfalls träumen durften, nämlich flächendeckend festzuhalten, wer wann mit wem auf welchem Weg kommuniziert hat, ist heute problemlos möglich“, so Bürstmayr. Die Möglichkeiten, die sich aus Instrumenten wie der Vorratsdatenspeicherung ergeben, sind gigantisch und furchterregend zugleich. Die Begehrlichkeiten, die damit einhergehen, ebenfalls. Es stellt sich die Frage, ob Kontrolle hier überhaupt noch möglich ist. „Sich bloß darauf zu verlassen, dass die Staaten Europas und ihre Beamten solche Möglichkeiten nicht missbrauchen, wäre grob fahrlässig“, warnt Bürstmayr.

Zwtl.: Vertrauliche Kommunikation zwischen Rechtsanwalt und Klient in Gefahr

Vor allem bisher besonders geschützte Bereiche der Kommunikation, wie etwa zwischen Rechtsanwalt und Klient, sind durch die Erfassung und Speicherung von Telekommunikationsdaten massiv gefährdet, auf breiter Front unterlaufen zu werden. Das Argument, wonach im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung der Inhalt der Kommunikation nicht erfasst wird, greift dabei völlig ins Leere. Selbstverständlich kann auch aus der Kontaktaufnahme mit einem Arzt, einem Seelsorger, einem Journalisten oder einem Rechtsanwalt auf den Inhalt, nämlich in der Regel eine entsprechende Konsultation, rückgeschlossen werden. „Dies ist ein nicht tolerierbarer Eingriff des Staates in die Verschwiegenheitsrechte zahlreicher Berufsgruppen, der auf Kosten des Rechtsstaates und der Bürgerrechte erfolgt“, warnt Benn-Ibler.

Zwtl.: Grundrecht auf Datenschutz in EU-Grundrechte-Charta verbindlich festgeschrieben; auf nationaler und EU-Ebene gegen Vorratsdatenspeicherung ankämpfen

„Diese Problematik macht auch vor Staatsgrenzen nicht halt. Der überwachte Raum ist ein europäischer, die Leidtragenden sind allein in der EU 500 Millionen Bürger“, erklärt Benn-Ibler. „Es ist daher notwendig, auf europäischer Ebene geschlossen und vehement dagegen aufzutreten“, gibt sich der ÖRAK-Präsident kämpferisch. Die Grundrechte-Charta der EU, die durch den Lissabon-Vertrag nunmehr verbindlichen Charakter besitzt, sieht in Artikel 8 erstmals ein eigenes Grundrecht auf den Schutz personenbezogener Daten vor. „Tatsächlich ist die EU-Charta international der erste und einzige Grundrechtekatalog, der ein eigenes Recht auf Datenschutz beinhaltet“, erklärt Morten Kjaerum, Direktor der EU-Grundrechteagentur, in seinem Referat. „Die Charta berücksichtig die zentrale Bedeutung, die das Recht auf Datenschutz in unserer Gesellschaft erlangt hat“, so Kjaerum weiter. „Die Verankerung der EU-Grundrechte-Charta im Vertrag von Lissabon eröffnet daher eine reelle Chance, den Reset-Knopf zu drücken und der Sammelwut ein Ende zu bereiten“, hofft Benn-Ibler. Auch die Erklärungen der neuen Kommissarin für Justiz, Juliane Reding, würden die Zuversicht auf eine späte Einsicht in Brüssel nähren. Sollte die Kommission selbst jedoch nicht in der Lage dazu sein, ruhen die Hoffnungen der Rechtsanwälte auf dem Europäischen Gerichtshof. „Auf dem Weg dorthin wäre eine Nicht-Umsetzung der Vorratsdatenspeicherung eine gute Gelegenheit, endlich einmal Flagge zu zeigen, indem sich Österreich klar für die bedingungslose Einhaltung der Grundrechte ausspricht“, so Benn-Ibler. Das von Infrastrukturministerin Doris Bures angekündigte Prüfungsverfahren beim Europäischen Gerichtshof sei ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Zwtl.: Umdenken ist unbedingt erforderlich; Keine Sicherheit ohne Einhaltung der Grundrechte

„Die Tatsache, dass wir hinter unser Tagungsthema ein Fragezeichen gesetzt haben, ist angesichts immer neuer Überwachungsmaßnahmen gerade einmal als Ausdruck der Hoffnung zu verstehen“, so Benn-Ibler. Ziel muss es sein, der Bevölkerung den Ernst der Lage klar zu machen und einen Sinneswandel auf Ebene der Verantwortlichen zu erreichen. Bewusstsein und Vertrauen der Bürger in Bezug auf Datenschutz müssen dringend gestärkt werden. „Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen die Bürger davon überzeugen, dass der Schutz personenbezogener Daten sowohl durch Verankerung im Grundrechtekatalog, als auch durch die Arbeit unabhängiger Institutionen tatsächlich gewährleistet wird“, fordert Kjaerum.

„Ein Schulterschluss der Zivilgesellschaften Europas, wie er im Rahmen der Europäischen Präsidentenkonferenz eindrucksvoll vorgenommen wird, soll dazu beitragen, die Verantwortlichen wachzurütteln. Grundrechte, wie jenes auf die Freiheit, ungestört und ohne Überwachung zu kommunizieren, wurden unter großen Opfern errungen, in manchen Teilen Europas vor gar nicht allzu langer Zeit. Diese Rechte nun im Tausch gegen einen immer nur vermeintlichen Sicherheitsgewinn zu opfern, steht in keinem Verhältnis“, so Benn-Ibler. „Schließlich kann weder Sicherheit zu Lasten der Grundrechte erlangt werden, noch umgekehrt“, meint Kjaerum und resümiert: „Die Lebensweise zu schützen, die wir als Gesellschaft so sehr schätzen, bedeutet auch, die Werte zu schützen, die dies alles erst ermöglichen“. „Nicht umsonst handelt es sich dabei um jene Grundsätze, auf denen unsere gesamte Rechtsordnung aufbaut“, fügt Benn-Ibler hinzu.

Informationen (Programm, Teilnehmerverzeichnis, etc) zur Europäischen Präsidentenkonferenz sind unter www.e-p-k.at abrufbar.

In Österreich gibt es 5500 Rechtsanwälte und 1800 Rechtsanwaltsanwärter. Rechtsanwälte sind bestausgebildete und unabhängige Rechtsvertreter und -berater, die nur ihren Klienten verpflichtet und verantwortlich sind. Primäre Aufgabe ist der Schutz, die Verteidigung und die Durchsetzung der Rechte Einzelner. Dritten gegenüber sind Rechtsanwälte zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet, womit auch eine völlige Unabhängigkeit vom Staat gewährleistet wird. Vertreten werden die Rechtsanwälte durch die Rechtsanwaltskammern in den Bundesländern sowie durch den Österreichischen Rechtsanwaltskammertag, ÖRAK, mit Sitz in Wien.

Rückfragehinweis:
Österreichischer Rechtsanwaltskammertag,
Bernhard Hruschka Bakk., Tel.: 01/535 12 75-15, 0699 104 165 18 hruschka@oerak.at, www.rechtsanwaelte.at

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